Mikroben als Sonden der Buchbiographie: Kulturwissenschaftliche Objektstudien zu spätmittelalterlichen Sammelbänden im Bestand der Universitätsbibliothek Leipzig
Teilprojekt B (LIBER) im Verbundprojekt "Kontamination und Lesbarkeit der Welt: Mikroben in Sammlungen zur Sprache bringen"
Am Beispiel der Deutschen Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen (DSMZ) sowie ausgewählter Stücke aus dem mittelalterlichen Handschriftenbestand der Universitätsbibliothek Leipzig arbeitet das Projekt an einer Neubewertung von Mikroorganismen. Während inzwischen deutlich geworden ist, dass Mikroben allgegenwärtig, außerordentlich vielfältig und in vielen Bereichen auch für Menschen lebensnotwendig oder nützlich sind, hält sich andererseits das Vorurteil, Mikroben seien eigentlich gesundheitsschädlich oder materialzersetzend und daher zu vernichten.
Mikroben lebten und leben auch auf Kulturobjekten. Sind sie also eigentlich zum Objekt dazuzurechnen, eventuell wichtige Informationsträger zur Geschichte des Objekts und daher letztlich vielleicht sogar schützenswert? Das Projekt sucht diese Frage und ihre Konsequenzen für „Lebend-“ und „Totsammlung“ zu verhandeln in Kooperation des Seminars für Philosophie der TU Braunschweig, der UB Leipzig und des DSMZ Braunschweig.
Teilprojekt A:
„,Die kontaminierte Welt als Buch‘: Zur Referentialität der Wissensordnungen von Tot- und Lebendsammlungen am Beispiel von Bibliothek und Mikrobenbank“ (ORDO)
Teilprojekt B:
„Mikroben als Sonden der Buchbiographie: Kulturwissenschaftliche Objektstudien zu spätmittelalterlichen Sammelbänden im Bestand der Universitätsbibliothek Leipzig“ (LIBER)
Teilprojekt C:
„Das Mikrobiom des Buches – archäomikrobiologische Analysen“ (BIOM)
Teilprojekt B:
Mikroben als Sonden der Buchbiographie: Kulturwissenschaftliche Objektstudien zu spätmittelalterlichen Sammelbänden im Bestand der Universitätsbibliothek Leipzig (LIBER)
Mikroben werden in Bibliotheken immer noch vor allem mit Schimmelpilzen gleichgesetzt, die das Buchmaterial zersetzen und daher unschädlich gemacht werden müssen. Das Projekt LIBER, das an das handschriftenkundliche Kompetenzzentrum der UBL („Handschriftenzentrum“) angebunden ist, möchte die unvermeidlich überall vorhandenen Mikroben im Verhältnis zu ihren „Habitaten“ in der Bibliothek und am Buch neu denken. Ganz im Sinne des „material turn“ wird der Handschriftencodex dabei als eine komplexe Einheit betrachtet, bei der die physische Materialität aufs engste mit den im Buch überlieferten Text- und Bildinhalten zusammenzusehen und als solche informationstragend ist. Dies eröffnet die Möglichkeit, das Objekt in seiner Körperlichkeit und im Rahmen seiner physischen Umgebung in den Blick zu nehmen. Von zwei Blickwinkeln aus sollen im Projekt mittelalterliche Sammelhandschriften betrachtet werden, nämlich zum einen aus sammlungsgeschichtlicher Perspektive, zum anderen im Hinblick auf Herstellungs-, Entstehungs- und besitzgeschichtliche Aufbewahrungskontexte der Bände, die (kultur-)historisch nachvollzogen werden sollen. In Zusammenarbeit dem mikrobiologischen Teilprojekt C versucht das Projekt auszuloten, inwiefern das Vorkommen von Mikroorganismen als „Sonden“ in und auf den Büchern Aussagen generieren kann, die zur Erhellung der zu skizzierenden Objektbiographien beitragen.
Zur Geschichte einzelner Teilsammlungen mittelalterlicher Handschriften der UBL ist bereits einiges bekannt (Überblick), doch im Projekt wollen wir genauer hinsehen, welche Bestände wann an welchen Orten wie aufbewahrt wurden und werden. Hieraus erhoffen wir uns Erkenntnisse über die räumlichen und klimatischen Verhältnisse, denen unsere mikrobentragenden Buchobjekte ausgesetzt waren und die die Lebensbedingungen der Mikroorganismen beeinflussten. Auf Objektebene zielen die Untersuchungen darauf ab, die Entstehungs- und Besitzgeschichte zu eruieren und anhand der zur Buchherstellung verwendeten Materialien vom Beschreibstoff (Pergament, Papier) über das Holz und das Leder für die Buchdeckel, Tinte, Farbpigmente und Buchbinderleim bis hin zu den aufgeklebten Signaturschildern und Restaurierungsmaßnahmen den „Lebenslauf“ der Bücher nachzuvollziehen, ebenfalls im Hinblick darauf, wo Mikroben welche Nahrungsquellen zur Verfügung standen oder stehen. Außerdem gehört zur Biographie des Buchs beispielsweise auch die Geschichte seiner mikrobeneintragenden Nutzung, daher sind auch Spuren der Leserschaft, seien es Annotationen oder Verschmutzungen, relevant.
Die Verbindung des Projekts zu den anderen beiden im Verbund liegt einerseits in der vergleichenden Perspektive von Sammlungs- und Wissensordnungen zwischen Lebend- und Totsammlung, andererseits im gegenseitigen Ergänzen von Informationen zu historischen Prozessen bezüglich der Handschriften als Mikrobenhabitat und mediales Objekt, um im Spannungsfeld zwischen Kontamination und „Lesbarkeit der Welt“ die Mikroben unserer Sammlungen zur Sprache zu bringen.
Im Frühjahr 2021 hat das Team LIBER in der Bibliotheca Albertina in Kooperation mit den Verbundpartnern eine Ausstellung unter dem Titel „Das kontaminierte Buch“ kuratiert.
Die Open-Access-Publikation des englischsprachigen Ausstellungskatalogs finden Sie hier: "The Contaminated Library"