Leipziger Machsor
Die zweibändige Prachthandschrift mit Gebeten und Lesungen für die jüdischen Feiertage gilt als die schönste ihrer Art. Um 1310 in Südwestdeutschland entstanden, wurde sie 1746 unter Christian Gottlieb Jöcher für die Universitätsbibliothek erworben.
Der Leipziger Machsor (andere Schreibweise: Mahzor; Slider, Abb. 1) ist mit zahlreichen Illustrationen in aufwendiger Deckfarbenmalerei und unter üppiger Verwendung von Blattgold ausgeschmückt. Gleichzeitig ist er ein Schriftkunstwerk, bei dem die Wörter in bestimmter Anordnung und unterschiedlicher Schriftgröße so auf die Seiten gesetzt sind, dass sich ein zugleich ästhetisches und bedeutungstragendes Gesamtbild ergibt. Die ausgestellte Seite mit der rahmenden Turmarchitektur, die von zwei Drachen getragen wird, ist ein Beispiel hierfür. Sie zeigt ein Initialwort-Schmuckfeld, um den Beginn des Morgengebets für den ersten Tag des Laubhüttenfests feierlich zu markieren. Wort (hier: 'Gelobt [seist du, Ewiger]' und 'Ich wasche [in Reinheit die Hände']) und Bildschmuck sind ineinander gearbeitet. Die prachtvolle Ausmalung der zweibändigen Handschrift geschah wahrscheinlich in einer christlichen Buchmalerwerkstatt, während die kalligrafischen Texte von jüdischen Schriftmalern stammen.
Ein Machsor ist ein Buch, das die Gebete und Bibellesungen für die Feiertage des jüdischen Jahres enthält. Es wird in der Synagoge vom Kantor benutzt. Bei den großen Judenpogromen der Pestjahre 1348/49 wurden in Mitteleuropa auch die jüdischen Handschriften weitgehend zerstört. Nur eine kleine Gruppe von Machsor-Handschriften aus der zweiten Hälfte des 13. und der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts entging der Zerstörung, darunter besonders prachtvolle, wie der Leipziger Machsor.
Dass der Leipziger Machsor in Südwestdeutschland entstanden ist, stützt sich primär auf den Stil des Buchschmucks, der mit der Buchmalerei am Ober- und Hochrhein oder in Franken in Verbindung gebracht werden kann. 2012 wurden die Texte des Leipziger Machsor untersucht und dabei wurde festgestellt, dass das spezifische Textprofil dem Gebrauch der Wormser Gemeinde entspricht, im Mittelalter zu den bedeutendsten jüdischen Gemeinden im Deutschen Reich.
Die Bildausstattung des Leipziger Machsor umfasst insgesamt zwei einleitende Miniaturen, 30 ornamental oder figürlich gestaltete Schmuckfelder für Initialworte, dazu sieben mit Arkaden umrahmte Initialwort-Seiten (diese nur in Band 2) sowie 19 szenische Darstellungen auf den Blatträndern (biblische Episoden, jüdische Ritualhandlungen). In den figürlichen Malereien sind die menschlichen Gesichter durch adlerschnabelartige Nasen in Profilansicht verfremdet, vermutlich um die im Judentum unübliche bzw. verbotene Darstellung menschlicher Gesichter zu umgehen, was uns auch in anderen hebräischen Handschriften der Zeit begegnet.
Durch Nachträge und Besitzvermerke sind wir über das Schicksal des Leipziger Machsor informiert. Noch 1553 dürfte sich die Handschrift in Worms befunden haben. Sie wurde durch einen urkundlich bezeugten Käufer erworben, nämlich David bar Samuel Dekingen, der wohl zur Wormser Gemeinde gehörte. Er versah beide Bände mit zahlreichen Ergänzungen und Erläuterungen.
Ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts verschlechterten sich die Bedingungen für die jüdische Gemeinde in Worms immer mehr. Die Atmosphäre zunehmender Unsicherheit und Bedrohung in der Stadt und der allgemein wachsende Druck auf die Juden im deutschen Reich hatte eine starke Abwanderung nach Osten zur Folge. Ende des 16. Jahrhunderts dürfte der Machsor nach Ost-Galizien (damals Polen, heute Westukraine) gelangt sein. Dies zeigt eine Anzahl weiterer Einträge, die wohl der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts angehören und der Anpassung der Texte an polnische Gebräuche dienen. Im 2. Band werden Rabbiner aus Lisko und Schebreschin erwähnt. Beide Orte liegen in Ost-Galizien und besaßen bis zur Vernichtung durch die Deutschen im Zweiten Weltkrieg blühende jüdische Gemeinden.
In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts könnte sich der Leipziger Machsor im Raum Sachsen/Thüringen befunden haben. Das belegen Wasserzeichen von Papieren, die auf die Innenseiten der Holzdeckel-Einbände geklebt waren. Vielleicht ist die Handschrift nach den Judenpogromen in Polen 1648/51 mit Flüchtlingen nach Westen gelangt.
1746 wurde der Machsor für die Universitätsbibliothek Leipzig angekauft. Im Erwerbungsbuch der Bibliothek ist die Handschrift, die für die damals große Summe von 26 Reichstalern den Besitzer wechselte, an erster Stelle aufgeführt (Slider, Abb. 2). Welchen Eindruck der Prachtcodex auf die Käufer machte, lässt die kurze Charakterisierung der Neuerwerbung spüren: „ein handgeschriebener Codex von gewaltigem Gewicht und höchst kunstvoller Ausführung in zwei Bänden in Großfolioformat, mit monumentalen Buchstaben, geschrieben, wie es scheint, in Spanien“ (Codex manuscriptus vastae molis et summae elegantiae duobus voluminibus in grandi folio, uncialibus literis, in Hispania ut videtur scriptus).
1746, als der Machsor angekauft wurde, hatte die Universitätsbibliothek keinen regulären Etat für Erwerbungen. Christian Gottlieb Jöcher (1694–1758; Slider, Abb. 3) war damals im Nebenberuf Leiter der Universitätsbibliothek und hat das Geld nach eigener Auskunft an anderer Stelle zusammengespart. Jöcher ist vieles: Herausgeber mehrerer biographischer Lexika, Trauerredner, Herausgeber der Zeitschrift Deutsche Acta Eruditorum ab 1719 (und bis 1739), Professor der Philosophie 1730 und der Geschichte 1732, 1735 Doktor der Theologie, ab 1742 dann auch Bibliothekar der Universitätsbibliothek. Er las Griechisch, Hebräisch oder Latein, aber auch Italienisch, Englisch oder Französisch.
Band 1, 52r: Geschichte Esthers I – Purimfest (Slider, Abb. 4)
Die dem Bild zugrunde liegende Geschichte bezieht sich auf das jüdische Purimfest. Der hohe persische Regierungsbeamte Haman wollte die jüdische Bevölkerung ermorden lassen, wird aber dank der Klugheit Esthers schließlich auf Befehl des Perserkönigs selbst hingerichtet. Die Bilderzählung zur Esther-Geschichte beginnt auf dieser Seite mit einer Darstellung Esthers vor dem persischen König.
Die Darstellung der Bildelemente verläuft im Folgenden der abendländischen Leserichtung von links nach rechts, während der Text selbst – wie in allen hebräischen Handschriften – von rechts nach links geschrieben ist. So endet im Text auf dieser Seite das Esther-Gedicht Elasars von Blatt 51v. Es folgen darunter drei Gebete, deren Beginn jeweils mit einem groß geschriebenen Wort markiert ist: Kult – Krone – Königinnen.
Band 1, 51v: Geschichte Esthers II – Purimfest (Slider, Abb. 5)
Der Text dieser Seite geht dem von Blatt 52r voran. Die Darstellung zeigt, wie Haman mit all seinen Söhnen gehängt wird. Auf der Seite steht oben in Rot: 'Sie hängten Haman'. Darunter beginnt ein Gedicht, bei dem die rot ausgerückten Anfangsbuchstaben jedes zweiten Verses den Namen des Dichters 'Elasar Kalir' (6./7. Jahrhundert) ergeben.
Band 1, 70v: Backen der ungesäuerten Brote – Pessachfest (Slider, Abb. 6)
Die Seite zeigt den Beginn des Abendgebets am ersten Pessach-Tag. Der Beginn des Gebets ('Die Nacht der Obhut') ist kalligraphisch mit großen Buchstaben hervorgehoben, ebenso wie die Wiederholung dieser Wortfolge im weiteren Gebet.
Band 1, 73r: Moses teilt das Wasser des Roten Meers – Pessachfest (Slider, Abb. 7)
Schmuckseite für den ersten Tag des Pessachfestes, der den Auszug aus Ägypten feiert. Mit großen Schriftzeichen markiert ist der Gebetsbeginn: 'Das Heilslicht / der Seligen'. Wie bei der Geschichte Esthers ist die Leserichtung der Illustration von links nach rechts, gegen die Leserichtung des Textes, der auf Blatt 72v beginnt.
Band 1, 72v: Die Verfolgung der Israeliten durch die Ägypter – Pessachfest (Slider, Abb. 8)
Diese Seite befindet sich rechts von der Darstellung der Teilung des Roten Meers (Blatt 73r) und enthält den vorangehenden Text. Die Ägypter sind als mittelalterliches Ritterheer dargestellt. Der groß geschriebene Passus auf der Seite ist ein Ausschnitt aus dem Kaddisch (Gebet zum Lobe Gottes) und lautet: '[des ganzen] Hauses Israel schnell und in naher Zeit. / Sprechet Amen'.
Band 2, 164v: Abendgebet – Jom Kippur (Slider, Abb. 9)
Schmuckseite mit der Hymne des Abendgebets an Jom Kippur (Versöhnungstag, höchster jüdischer Feiertag). Unten ist die Legende von Abraham im Feuerofen des Nimrod und seiner wundersamen Errettung dargestellt. Die Dominanz der Gerichtsszene und die Darstellung Abrahams auf einem Scheiterhaufen könnte die Judenverbrennungen bei den so genannten 'Rintfleischpogromen' Ende des 13. Jahrhunderts in Franken aufgreifen.Im Schmucktor oben groß die Worte 'Jener Starke', darunter in Rot 'wie geschrieben ist', da-runter in Schwarz 'als Verdienst' sowie 'geliebt'.
Machsor Lipsiae, 68 Faksimile-Tafeln, hg. v. Elias Katz, Kommentar von Bezalel Narkiss, Leipzig 1964
Gabrielle Sed-Rajna, Le Mahzor enluminé, Leiden 1983
Katrin Kogman-Appel, A Mahzor from Worms: Art and Religion in a Medieval Jewish Community, Cambridge 2012
Wikipedia-Eintrag zum Leipziger Machsor
Beim Deutschen Historischen Museum kann eine DVD des Machsor Lipsiae erworben werden