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Heliand-Fragment

Bedeutendstes Zeugnis der altsächsischen Literatur aus dem 9. Jahrhundert. Das Pergamentblatt wurde im 17. Jahrhundert als Bucheinband benutzt und 2006 im Bestand der Leipziger Thomaskirchenbibliothek entdeckt, der seit 1930 in der Universitätsbibliothek aufbewahrt wird.

Das Pergamentblatt (Slider, Abb. 1) ist 24 cm hoch und 16,5 cm breit. Es ist an den Ecken besonders stark beschnitten, weil es um 1610 als Einbandbezug für einen Sammelband benutzt wurde. Das Blatt stammt aus einer Buchhandschrift und ist auf beiden Seiten beschrieben. Das Schriftbild verweist auf die Mitte des 9. Jahrhunderts. Anders als zu dieser Zeit im europäischen Mittelalter üblich, wird hier in karolingischer Minuskel (unter Karl dem Großen eingeführte Schrift in Kleinbuchstaben) auf Pergament kein lateinischer Text weitergegeben. Der Text ist in Altsächsisch, der frühmittelalterlichen Vorform des heutigen Niederdeutsch.
Hier zu sehen ist die Rückseite des Blattes, die vom Buchbinder auf die Deckel geleimt wurde und so gut geschützt war. Der Text ist in der Handschrift in fortlaufenden Zeilen geschrieben, obwohl es sich um eine Versdichtung handelt. Die Verse sind durch Punkte voneinander getrennt. Wenn eine Verszeile mit neuer Zeile beginnt, markiert der Schreiber dies dadurch, dass er den ersten Buchstaben ausrückt. Die Verse des Heliand sind zweigeteilte Langzeilen, die durch Stabreim in sich zusammengebunden werden, d. h. sinntragende Worte innerhalb der Langzeile beginnen mit demselben Laut. Die Langzeile in der siebtletzten Zeile direkt über der Initiale lautet etwa: gangat gahlico endi giduat it them is giungarom kuđ (Geht rasch und tut es seinen Jüngern kund).
Bei der rot-gelb hinterlegten Initiale beginnt eine neue Fitte, so nennt der Heliand-Dichter die einzelnen Kapitel, in die er seine Dichtung unterteilt hat.
Der Text auf der Handschriftenseite gibt die Szene des Ostermorgens aus dem Neuen Testament wieder. Die drei Marien begegnen am offenen und leeren Grab Christi Engeln, die ihnen die Auferstehung verkünden und ihnen auftragen, die frohe Kunde den Jüngern weiterzutragen. Der Text in Übersetzung (zeilengenau, die Schrägstriche trennen die Verse):

[Es war ihnen der Glanz zu] stark, / zu leuchtend zu sehen. Da sprachen sogleich
zu ihnen / des Herren Boten, und die Frauen sie frag-
ten, / warum sie Christus dort suchten, den Lebenden bei den To-
ten, / den Sohn Gottes sie zu suchen kamen, / den des Lebens
vollen. 'Nun findet ihr ihn nicht hier / in diesem Steingra-
be, denn er ist schon erstanden / mit seinem Leib. Das
sollt ihr glauben / und gedenkt der Wor-
te, die er euch wahrhaftig oft / selber sagte, als er
in eurer Mitte war/im Land Galiläa; wie er
gegeben werden sollte/verkauft selbst an sündige
Menschen/in die Hand der Hassenden, der heilige Herr, / dass
sie ihn marterten und ans Kreuz schlugen, /
ihn töteten, und dass er sollte durch Gottes
Macht / am dritten Tage zur Rettung der Völker /
lebendig erstehen. Nun hat er alles so getan, /                    
vollbracht unter den Menschen. Eilt nun von hinnen, /
geht rasch und tut es seinen Jüngern kund /
Er ist vorausgegangen und ihnen
zuvor / ins Land Galiläa. Dort sollen seine Jün-
ger ihn / sehen, seine Gefährten.' Da wurden sogleich
deshalb / die Frauen voll Freude, als sie hör-
ten solche Worte sprechen, / künden die Macht Gottes.
Sie waren aber noch erschrocken / in Furcht ...

(Übersetzung: Hans Ulrich Schmid und Christoph Mackert)

Der Heliand ist eines der wichtigsten Zeugnisse der deutschen Dichtung in ihrer Frühzeit. Er wurde wohl noch vor der Mitte des 9. Jahrhunderts verfasst und erzählt in ungefähr 6.000 Versen das Leben Jesu.
In Wortwahl und Erzählstil schließt das Werk eng an die germanische Dichtungstradition an, von der sich im Gebiet des karolingischen Reichs sonst nur wenige Schriftzeugnisse erhalten haben. Als Ausläufer dieser alten mündlichen Epik-Tradition ist das Werk von besonderem Wert. Adressaten des Heliand waren wohl vor allem adelige Klosterangehörige des frisch christianisierten sächsischen Stammesgebiets. Mögliche Entstehungsorte des Heliand könnten das Reichskloster Fulda oder ein weiter westlich gelegenes altsächsisches Zentrum, etwa Werden bei Essen, sein.
Der Titel Heliand geht auf den Münchner Bibliothekar und Professor Johann Andreas Schmeller zurück, der kurz vor 1830 eine erste Heliand-Handschrift in München entdeckte und von dem die Erstausgabe des Textes stammt. Das Wort heliand, das im Epos häufig als Bezeichnung für Jesus verwendet wird, ist die altsächsische Entsprechung zum hochdeutschen Wort 'Heiland'.

Der Heliand ist zweimal überliefert, in beiden Handschriften allerdings aufgrund von Blattverlusten nicht vollständig. Der Schluss der Dichtung gilt daher heute als verloren. Außerdem haben sich Fragmente von drei weiteren Textzeugen erhalten. Das in Leipzig entdeckte Fragment (L) stammt aus einer ehemaligen Heliand-Handschrift, von der ein weiteres Blatt bereits 1880 in Prag aufgefunden wurde. Dieses Fragment (P) wird heute im Deutschen Historischen Museum zu Berlin aufbewahrt.
Das Berliner Blatt gehörte zum Anfangsteil der zerstörten Heliand-Handschrift und enthält die Episode von der Taufe Jesu im Jordan. Das Leipziger Fragment befand sich im hinteren Teil des Codex und überliefert die Osterszene nach der Auferstehung.

(Slider, Abb. 2) Der Leipziger Band, zu dessen Einband das Heliand-Fragment benutzt wurde, enthielt zwei Wittenberger Drucke aus den Jahren 1608 und 1609. Das Format wie auch der Inhalt der Drucke (und ebenso die einfache Art der Bindung) lassen vermuten, dass es sich um Gebrauchsliteratur für den neuzeitlichen Universitätsbetrieb handelte. Die Frage stellte sich, in welcher Universitätsstadt der Buchbinder saß, der zu Beginn des 17. Jahrhunderts die alte Heliand-Handschrift als Einbandmaterial verwendete.
Nach der Entdeckung des Leipziger Fragments im Jahr 2006 spricht alles für Wittenberg, denn die Drucke des Leipziger Bandes waren für den Gebrauch an der Universität Wittenberg bestimmt und wurden ausschließlich in Wittenberg verlegt. Zu einer Lokalisierung nach Wittenberg passt auch, dass als Kernmaterial für die Einbanddeckel Reste eines älteren Lederstempeleinbands wiederverwendet wurden, dessen ornamentaler Schmuck dem Wittenberger Einbandstil der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts entspricht.

Die Hinweise auf Wittenberg als den letzten Aufbewahrungsort der Heliand-Handschrift vor deren Zerstörung sind von besonderer Bedeutung, weil sich aus dem mittleren 16. Jahrhundert mehrere Nachrichten erhalten haben, die auf einen heute verlorenen Codex des altsächsischen Epos im Umkreis der Wittenberger Reformatoren schließen lassen. Dieser Codex dürfte eine lateinische Vorrede zum Heliand enthalten haben,  die der protestantische Theologe Flacius Illyricus (1520–1575) in der 2. Auflage seines 'Katalogs der Zeugen der Wahrheit' (Catalogus testium veritatis) als Beleg für frühe Bibelverdeutschungen abdruckte. Diese Heliand-Vorrede berichtet über die Entstehungsbedingungen der Bibeldichtung und benennt den 'allerfrommsten Kaiser Ludwig' (Ludouicus piissimus Augustus, wohl Ludwig der Deutsche) als Auftraggeber. Die Handschrift mit der wichtigen Vorrede ist heute verloren. Vielleicht stammte sie aus dem Umfeld des Autors.
Die Heliand-Handschrift, die unter anderem wohl von Luther benutzt wurde, hat vermutlich zur Privatbibliothek des Leipziger Professors und mehrfachen Rektors Caspar Borner (1492–1547) gehört, der auch der Gründer der Universitätsbibliothek Leipzig war. Borner könnte das Manuskript an Luther ausgeliehen haben, das dann in Wittenberg verblieben sein dürfte.
In jedem Fall ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die beiden Blätter – in Leipzig wie in Berlin – Reste der kostbaren Handschrift sind, die zeitlich wie inhaltlich eng an den Autor heranführen könnte.

Die andere Seite des ausgestellten Blatts (Slider, Abb. 3) ist die ursprüngliche Vorderseite, welche die Heliand-Verse 5823–5846 überliefert. In ihnen wird erzählt, wie die Frauen am Ostermorgen zunächst von dem Engel am Grab Christi von der Auferstehung erfahren und dann auf ihrem Rückweg den beiden anderen Engeln begegnen, deren Botschaft auf der ausgestellten Rückseite folgt.
Die Vorderseite des Blatts diente als Außenseite des Einbands und ist daher stark gedunkelt und abgerieben.
Interessant sind zwei nachträgliche Textbearbeitungen in der letzten Zeile, die wohl sehr bald nach Entstehung der Handschrift vorgenommen wurden: Über der Zeile sind hier zwei Wörter eingetragen, die den Stabreim in dieser Zeile ändern. Wir werden hier Zeugen einer dichterischen Arbeit am Text. Eine der beiden Änderungen findet sich in einer in London aufbewahrten Heliand-Handschrift wieder. Auch das stützt den Eindruck, dass die Handschrift, aus der die Leipzig-Berliner Blätter stammen, ins Umfeld des Autors gehören.

Das Manuskript kann über das Projekt TITUS der Universität Frankfurt online eingesehen werden. Über die Seite des Handschriftencensus finden sich genaue Angaben zu Umfang und Beschaffenheit des Manuskripts. Das Fragment im Besitz des Deutschen Historischen Museums findet sich hier